"Tonsüchtig
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Sie gelten als die Hüter des weltberühmten „Wiener Klangs“: die Wiener Symphoniker. Der Kinodokumentarfilm TONSÜCHTIG von Iva Švarcová und Malte Ludin erlaubt erstmals einen Blick in das Innenleben des international renommierten Orchesters. Was diesen Film so besonders macht: er zeigt auch die unbekannten Seiten des Musiker-Daseins, er spart berufliche Konflikte ebenso wenig aus wie private. Etwa jene, die der Konzertmeister mit wechselnden Dirigenten auszutragen hat oder die Spannungen, die entstehen, wenn ein Musiker mehr mit seinem Beruf und seinem Instrument „verheiratet“ zu sein scheint als mit seiner Frau. Auch solche private Augenblicke gelingt es Švarcová und Ludin einzufangen und darum begegnen ihnen die porträtierten Orchester-Mitglieder auch mit erstaunlicher Offenheit.

Sie erzählen von dem enormen Druck, unter dem sie zuweilen stehen, und von der Angst, zu versagen. Das beginnt bereits bei den ganz Jungen. Sie wissen: es geht um genau diese eine Stelle, um alles oder nichts. Das Probespiel – in mehreren Durchgängen – wird zum Nervenkrieg. Die Älteren wiederum haben Angst, den hohen Anforderungen nicht mehr zu genügen, von den Nachkommenden künstlerisch überflügelt zu werden. Und der Konzertmeister bangt seiner bevorstehenden Pensionierung entgegen: was bleibt, wenn alles vorbei ist, was sein Leben bisher bestimmt hat?

Kunst als Hochseil-Akt: Der Grat zwischen Triumph und Desaster ist schmal, und zwischen Harmonie und Dissonanz liegt oft nur ein Millimeter. Wenn die Hände der Violinistin unsicher werden, war alles Üben und Proben umsonst. TONSÜCHTIG führt in eine Welt der gnadenlosen Disziplin, die nach ständiger Höchstleistung verlangt und keinen Fehler verzeiht. Das wird besonders an der berührenden Geschichte eines Orchesterwartes deutlich, der früher selbst Musiker bei den Symphonikern war und an der Angst vor dem Scheitern fast zerbrochen wäre. Es sind genau diese Aspekte, die TONSÜCHTIG so spannend machen – und das nicht nur für Klassik-Fans.

Der Film bricht aber auch eine Lanze für mehr „Frauenpower“ in einer – immer noch – männlich dominierten Welt: Höhepunkt von TONSÜCHTIG ist das Probespiel für die Stelle des Ersten Konzertmeisters – und die kann eine Frau, Sophie Heinrich, für sich entscheiden.

Bleibt die Frage: Wie lässt er sich nun beschreiben, der legendäre „Wiener Klang“? Er habe, meint Chefdirigent Philippe Jordan, etwas „Sinnliches“ und „Leichtes“, insgesamt sei er heller als der deutsche Klang. Freilich: genau definieren, da sind sich die Symphoniker einig, lässt er sich nicht; dafür aber spielen, hören – und vor allem fühlen. Ihn zu pflegen ist eben nicht „Anbetung der Asche“, sondern die „Weitergabe des Feuers“..



REGIESTATEMENT
Die Idee, das Innenleben eines großen Orchesters zu beleuchten, kam uns, als wir im Konzertsaal saßen. Vor uns auf der großen Bühne die Wiener Symphoniker, an die 100 Persönlichkeiten, Charaktere, Individuen, die unter dem Taktstock des Dirigenten zu einem einzigen Instrument werden. Wir haben uns gefragt, was sich wohl unter der scheinbar glatten, perfekt funktionierenden Oberfläche dieses Klangkörpers abspielt.
Wir lernten das Orchester kennen. Es entstand eine vertrauensvolle Beziehung. Nachdenklich und offen sprachen die Musiker über die Zwänge, denen sie seit früher Kindheit ausgesetzt waren. Sie offenbarten uns ihr lebenslanges Streben nach einer Perfektion, von der sie ahnen, dass sie unerreichbar bleibt. Ob sie aus bürgerlichen Familien kamen, in denen klassische Musik zum Selbstverständnis gehört, oder aus der Volksmusik, ob der Weg zum Musiker geebnet war oder erkämpft werden musste – immer war der Preis hoch und mit Verzicht verbunden. Erstaunt hörten wir, dass sie sich mit Leistungssportlern vergleichen. Für uns sind sie viel mehr als das. Sie müssen nicht nur Höchstleistungen an Konzentration und Körperbeherrschung liefern, sondern auch all ihre Sinne öffnen, um mit der Musik, die sie spielen, eins zu werden. Im Unterschied zu Leistungssportlern werden sie von Kräften getragen, die sich einer rationalen Kontrolle entziehen.
Wir haben den Ersten Konzertmeister begleitet, der nach 30 Jahren Dienst im Orchester seinen Abschied nimmt – eine mit Haut und Haaren der Musik verschriebenen Persönlichkeit, nicht nur Meister seines Fachs, sondern auch hervorragender Repräsentant der berühmten Wiener Musikkultur.
Wir hatten das Privileg, uns auf der Bühne mitten unter den Orchestermusikern bewegen zu können und haben während der Proben hautnah erlebt, wie der Leistungsdruck von außen den Druck von innen verstärkt. Eine der für uns erschütterndsten Szenen bleibt das Bekenntnis des Orchesterwarts, der früher Erster Hornist war. Jetzt rückt er für seine Kollegen Stühle und Pulte zurecht und legt Notenblätter auf. Bei ihm wurde wahr, was alle Orchestermusiker fürchten: Das Monster Versagensangst hat ihn überwältigt, sodass er auf seinem Instrument keinen Ton mehr herausbringen konnte.




















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Die Wiener Symphoniker von Innen
von Iva Švarcová und Malte Ludin
(A 2020, 90 Min, dt. OF)